Die verwandten des modernen Menschen galten lange ausschließlich als Fleischesser. Eine Fehleinschätzung! Ein fester Bestandteil ihres Nahrungsspektrums waren Pflanzen.

 

»So einseitig wie Wölfe« hätten sich die Neandertaler ernährt, verkündeten 2005 die Urgeschichtsforscher. Am Verhältnis der Isotope, also der Atomsorten mit unterschiedlicher Neutronenanzahl im Kern, in fossilen Neandertalerknochen sei dies abzulesen.

Dieser Rückschluss aus den Isotopenmessungen erwies sich später als voreilig und unzutreffend. Doch verbreitet durch eine Meldung der Deutschen Presse-Agentur dpa, wurde die Botschaft vor 17 Jahren im gesamten deutschen Sprachraum nachgedruckt und prägt seitdem hartnäckig die öffentliche Wahrnehmung.

Die erste wichtige Korrektur am herkömmlichen Bild betrifft den Punkt Großwild. Neandertaler haben zwar in der Tat Großsäuger gejagt, wenn und wo welche verfügbar waren. Doch je nach Region, Biotop und Jahreszeit griffen sie durchaus auch auf deutlich kleineres Getier zu.

Am verblüffendsten jedoch für alle, die noch das Bild der wölfischen Fleischverschlinger in den Köpfen haben, dürfte dies sein: Neandertaler haben sich zwar großenteils von Fleisch ernährt, aber zu einem erheblichen Teil auch von Pflanzen.

Dass der Anteil vegetarischer Nahrung tatsächlich bedeutsam gewesen sein muss, hat 2021 eine Arbeitsgruppe vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena nachgewiesen. Die Gruppe untersuchte bis zu 100 000 Jahre alte Zähne von modernen und frühen Angehörigen der Gattung Homo sowie von mehreren Affenarten. die Forscher stellten fest:

  • Die Ähnlichkeit des Mikrobioms von Neandertaler und modernem Menschen geht so weit, dass auf den Zähnen beider Menschenformen die DNA derselben speziellen amylasebindenden Streptokokken zu finden ist. Das sind Bakterien, die besonders gut pflanzliche Stärke verdauen können.
  • Das zeigt: Nicht nur anatomisch moderne Menschen, sondern bereits Neandertaler und vermutlich schon deren Vorläufer haben offensichtlich viel pflanzliche Stärke zu sich genommen. So viel, dass in ihren Mundhöhlen seit mehr als 100 000 Jahren eine an stärkehaltige Nahrung angepasste Mundflora entstand.

Gemüse und Getreide gegen den Kaninchenhunger

Warum überhaupt haben die Frühmenschen neben Fleisch auch pflanzliche Nahrung zu sich genommen? Die Antwort liegt höchstwahrscheinlich in der Physiologie der Gattung Homo. Stichwort: Proteinvergiftung

Aminosäuren, die Bausteine von Eiweiß, enthalten Stickstoff, den der menschliche Körper nicht in größeren Mengen verwerten kann. Nur bis zu 20 Prozent der Nahrungskalorien sollten aus Proteinen stammen. Exzessiver Fleischkonsum – ab etwa 35 Prozent Proteinzufuhr – führt dazu, dass sich gefährlich hohe Konzentrationen an Ammoniak und anderen toxischen stickstoffhaltigen Substanzen im Organismus ansammeln.

Der menschliche Körper hat zwei biochemische Wege, um ein Zuviel an Stickstoff loszuwerden. Einer ist die Zufuhr von Kohlenhydraten wie typischerweise Stärke; das hilft, den Stickstoff auszuscheiden. Ein zweiter Entgiftungsweg ist die Aufnahme großer Mengen von Fett. Ihn beschreiten die Inuit in der Arktis, wo so gut wie keine stärkehaltigen Pflanzen verfügbar sind, aber Robben und Wale große Mengen Fett liefern.

Entgiftung via Kohlenhydrate

Die Entgiftung durch Fett war den Neandertalern kaum möglich. Das Wildfleisch, von dem sie großenteils lebten, war fettarm. Und die Markknochen und das Hirn allein wogen die Masse an magerem Muskelfleisch nicht auf. Also blieb nur der Entgiftungsweg via Kohlenhydrate.